Der Zug
"Jeden Abend um 6:50 Uhr verlässt ein Postzug ihrer Majestät der Königin von England den Bahnhof von Glasgow. Der Zielbahnhof ist Euston Station London, wo der Zug morgens pünktlich um 3:41* eintrifft. Am morgen des 8. August 1963 erreichte der Zug sein Ziel nicht..."
Eingangstext zu Folge 1 von "Die Gentlemen bitten zur Kasse", gesprochen von Heinz Günter Martens
* Die korrekte Angabe wäre 3:59 Uhr.
Der Travelling Post Office (TPO)
Das Konzept des "Travelling Post Office" war schon um 1830 auf der Strecke Liverpool-Manchester entstanden. An den Haltebahnhöfen wurden Postsäcke aufgenommen, an Bord von Mitarbeitern der Royal Mail sortiert und dann an ihren jeweiligen Zielbahnhöfen zur Auslieferung übergeben. Das System wurde über die Jahre immer weiter perfektioniert und ausgebaut. Auf dem Höhepunkt um 1914 fuhren täglich 126 TPOs mit jeweils rund 70 Postmitarbeitern durch das Land. Die "Travelling Post Offices" hatten rote Waggons, die neben dem Wappen und der Bezeichnung "Royal Mail" auch an ihren besonders schmalen, weit oben angebrachten Fensterschlitzen erkennbar waren, die den Einstieg ungebetener "Fahrgäste" erschweren sollten.
Eine besonders clevere Innovation waren die sogenannten "Lineside Apparatus". An Bahnhöfen ohne fahrplanmäßigen Halt des TPO wurden spezielle Gestelle am Bahnsteig aufgestellt. In diese wurden spezielle Ledertaschen eingehängt, die der vorbeifahrende Zug mit einem kurz vorher vom Personal ausgeklappten Netz "aufgabeln" und zugleich mit einer anderen Vorrichtung fertig sortierte Postsäcke abwerfen konnte, ohne anzuhalten. So konnten deutlich mehr Stationen ohne Zeitverlust bedient werden. Eine schöne Doku findet sich dazu auf youtube.
Nach dem ersten Weltkrieg nahm die Zahl der TPOs langsam ab, sie endete aber erst am 10. Januar 2004 mit der letzten Fahrt. Im Jahr 1963 gab es noch rund 40 verschiedene Postzüge; täglich arbeiteten immer noch fast 3.000 Menschen irgendwo in Großbritannien in einem TPO. Ihr Arbeitgeber war die Royal Mail bzw. das General Post Office (GPO). Es waren zumeist erfahrene Sortierer, die in Spitzenzeiten bis zu 2.000 Briefe pro Stunde mit einer Genauigkeit von 99% zu sortieren hatten.
Der "Up Special"
Ein solcher TPO war auch der nächtliche Postzug zwischen Glasgow und London. Er trug den Spitznamen "Up Postal" oder "Up Special" und startete jeden Abend um 18:50 in Glasgow Central. Nach 9 Stunden Fahrt und 401 zurückgelegten Meilen (645 km) war um 03:59 Uhr morgens fahrplanmäßig Ankunft in London Euston Station. London hat statt eines Hauptbahnhofs viele Kopfbahnhöfe, in denen jeweils eine oder mehrere Strecken aus den verschiedenen Landesteilen enden. Beispiele sind Paddington, Waterloo, Victoria oder King's Cross. Euston Station liegt im Nordwesten Londons, hier enden die Züge der "West Coast Main Line".
Gezogen wurde der Zug von einer 2.000 PS starken Diesellok des Herstellers "English Electric". Das Unternehmen war nach dem 1. Weltkrieg durch Fusion verschiedener Hersteller entstanden, u.a war auch die Firma von Robert Stephenson darin aufgegangen. Die Lok war vom "Type 4", der später als "British Rail Class 40" bezeichnet wurde. Zwischen 1958 und 1962 wurden davon bei English Electric genau 200 Stück hergestellt und mit den Nummern 200-399 versehen. Am Abend des 7. August 1963 wurde die Lokomotive mit der Nummer D326 (später als 40 126 bezeichnet) eingesetzt. Sie war in Glasgow mit 5 Waggons gestartet und hatte in Carstairs vier und in Carlisle weitere drei Waggons hinzubekommen. In den nunmehr 12 Waggons versahen insgesamt 77 Mitarbeiter des General Post Office der Royal Mail ihren Dienst. Vorne auf der Lok waren Lokführer Jack Mills (57) und sein "Fireman" David Whitby (26), die beide an ihrem Wohnort Crewe zugestiegen waren und ihre Vorgänger abgelöst hatten.
Die Reihenfolge der Waggons ist an diesem 7. August 1963 so, dass direkt hinter der Lok ein verschlossener und unbemannter Waggon mit Paketen hängt. An zweiter Position befindet sich dann der eigentliche "Geld-Waggon", im Bahnjargon als "HVP (High Value Packet) Coach" bezeichnet. Ein High Value Packet war ein von einer Bank registriertes und zum Transport aufgegebenes Wertpaket. HVPs wurden in grünen Postsäcken transportiert, während der Fahrt werden alle neu hereinkommenden grünen Säcke laufend nach vorne zur HVP-Coach gegeben, wo die einzelnen Pakte in weiße Säcke gepackt wurden. Im HVP-Waggon arbeiten in dieser Nacht fünf GPO-Mitarbeiter, die Aufsicht hat Frank Dewhurst. Dahinter folgen weitere zehn Waggons, in denen sich weitere 72 Postmitarbeiter befinden. Der letzte dieser zehn Waggons ist ein Bremswagen (boogie brake van) mit einem Mann Besatzung - neben Mills und Whitby der dritte Mitarbeiter von British Rail in diesem Zug. Dieser Waggon ist eigentlich dank moderner Bremsen obsolet, aber noch ist sein Einsatz vorgeschrieben. Erst 1968 fällt die Regel weg.
In dieser Nacht sammelt der "Up Special" nach und nach 128 HVP-Postsäcke mit 663 Geldpaketen (HVPs) auf. Die meisten davon nicht in Schottland, sondern in Nord- und Mittelengland. Dass sich inzwischen an die 3 Millionen Pfund an Bord befinden, bereitet niemandem Kopfzerbrechen. Seit 125 Jahren hat es keine Überfälle mehr auf TPOs gegeben. Es gibt im gesamten Zug keine Polizisten oder Sicherheitspersonal, und niemand ist bewaffnet. Die Züge mit Funkgeräten auszrüsten, war vor einiger Zeit zwar diskutiert, aber aus Kostengründen wieder verworfen worden. Eine Besonderheit gibt es in dieser Nacht, die später für viele Diskussionen und Spekulationen sorgen wird: Der eigentliche HVP-Waggon mit speziellen Sicherheitsvorrichtungen befindet sich im Ausbesserungswerk. Stattdessen wird ein weniger gesicherter Wagen eingesetzt. Wussten die Posträuber davon? Hatten sie evtl. sogar durch Sabotage dazu beigetragen? Das wird wohl nie geklärt werden. Die Einschätzung ist allerdings, dass die Posträuber auch den stärker gesicherten Wagen relativ sicher hätten aufbrechen können. Sie hätten lediglich etwas mehr Zeit benötigt.
Der Fahrplan am 7./8. August 1963:
Station |
Ankunft |
Abfahrt |
Postsäcke |
Anmerkung |
Glasgow Central |
- |
18:50 |
Beginn der Fahrt |
|
Carstairs |
19:32 |
19:45 |
4 Waggons aus Aberdeen (Abfahrt dort 15:30) kommen hinzu |
|
Carlisle |
20:54 |
21:04 |
30 |
3 Waggons kommen hinzu, Schichtwechsel Aufsicht |
Preston |
22:53 |
23:03 |
41 |
|
Warrington |
23:36 |
23:43 |
46 |
|
Crewe |
00:12 |
00:30 |
91 |
Jack Mills und David Whitby übernehmen die Lok. |
Tamworth |
01:23 |
01:30 |
125 |
|
Rugby |
02:12 |
02:17 |
128 |
|
Sears Crossing/Bridego Bridge |
03:05 |
- |
8 |
unplanmäßiger Halt: The Great Train Robbery. Verlust: 120 Postsäcke |
London Euston Station |
03:59 |
- |
- |
Endstation (nicht erreicht) |
Neben diesen Haltestellen bediente der Up Postal auf seiner Fahrt regelmäßig acht weitere Stationen mittels der "Lineside Apparatus" (siehe oben): Penrith, Carnforth, Lancaster, Leighton Buzzard, Berkhamsted, Hemel Hempstead, King's Langsely und Harrow.
Exkurs: Warum "Royal Mail" aber "British Rail"?
England war als Mutterland der Eisenbahn dank Pionieren wie Richard Trevithick (1771-1833) und George Stephenson (1781-1848) dem Rest der Welt zunächst um viele Jahre voraus. Schon 1825, zehn Jahre vor der ersten Zugfahrt in Deutschland (Nürnberg-Fürth) verkehrte erstmals ein Personenzug zwischen Stockton und Shildon in Nordengland, gezogen von einer von Stephenson gebauten Lok. Schon um 1830 wurde erstmals Post transportiert, ab 1838 gab es erste eigens dafür konstruierte Wagen. Es entwickelte sich in Form der "Travelling Post Offices" (die offiziell erst ab 1928 so hießen) eine eingespielte Zusammenarbeit mit der Königlichen Post. Im Gegensatz zu den Eisenbahnen war die Royal Mail allerdings seit Jahrhunderten in staatlicher Hand, seit 1516 geführt von einem "Postmaster General", den jeweils der König ernannte.
Der Siegeszug der Eisenbahn setzte um 1830 ein und führte 1840 sogar zu einer als "Railway Mania" bekannten Spekulationsblase an den Börsen. Bis 1914 wuchs das britische Schienennetz auf 23.440 Meilen (37.715 km), und man transportierte 1,4 Milliarden Passagiere jährlich. Allerdings war das schnell gewachsene System aus 120 privaten Eisenbahngesellschaften unkoordiniert und ineffizient. Schon vor dem ersten Weltkrieg gab es Forderungen (u.a. von dem noch jungen Parlamentarier Winston Churchill) nach Fusionen und Rationalisierung. 1923 schlossen sich dann die 120 Bahnen zu vier großen Aktiengesellschaften ("Big Four") zusammen. Während des zweiten Weltkriegs wurden die Führungen der Big Four zusammengelegt, um die Landesverteidigung optimal unterstützen zu können. Nach diesem "Probelauf" wagte dann 1948 die Labour-Regierung unter Premierminister Clement Attlee die Verstaatlichung unter dem Namen "British Rail". Neben ideologischen Gründen gab es dafür auch praktische Erwägungen, denn das Netz war in schlechtem Zustand und die Technik und Fahrzeuge veraltet. Die notwendigen Investitionen konnten von privaten Bahngesellschaften kaum aufgebracht werden.
British Rail 1960: Niedergang und "Beeching Axe"
Der Postraub fiel in eine Zeit des Niedergangs der Eisenbahn: Trotz eines gigantischen Modernisierungsprogramms, mit Elektrifizierung vieler Strecken und Umstieg von Dampf- auf Dieselloks auf den übrigen Routen, befand sich die BR (British Rail) Anfang der 1960er Jahre in einer ernüchternden Lage. Der Anteil am Verkehrsaufkommen war um zwei Drittel zurückgegangen, Investitionsbedarf und Inflation trieben die jährlichen Verluste bis 1962 auf über 100 Millionen Pfund. Zugleich ging der Regierung das Geld aus, denn die Wirtschaftslage des Landes, das noch immer unter den finanziellen Kriegsfolgen litt, war bei weitem nicht so gut wie z.B. im besiegten Deutschland, dessen Wirtschaftswunder man nicht ohne Neid betrachtete. In jedem Fall war der Umfang des Bahn-Angebotes nicht mehr lange aufrecht zu erhalten. Der 1958 von Premierminister Harold McMillan zum neuen BR-Chef ernannte Dr. Robert Beeching entwickelte daher einen straffen Rationalisierungsplan, der die Schließung von 30% der Strecken, 55% der Bahnhöfe und die Entlassung von über 67.000 Mitarbeitern vorsah. Trotz Protesten (man sprach von der "Beeching-Axe") wurde dieser Plan bis zur Mitte der 1970er Jahre weitgehend umgesetzt.